Schon der erste Blick auf die kinderchirurgische Allgemeinstation zeigt, dass das hier Welten von dem unterscheidet, was ich in Deutschland als Kinderchirurgie kennengelernt habe. Auf der Allgemeinstation (im Unterschied zum Private und Semi-Private Ward) liegen gut 20 Kinder, Jungen und Mädchen im Alter von etwa 0 bis 14 Jahren, in einem großen Raum. Und dazwischen laufen etwa doppelt so viele Mütter, Schwestern, Schülerinnen, Putzfrauen, Ärzte und noch einige andere Angehörige herum… trotzdem geht es, von den Ventilatoren einmal abgesehen, noch erstaunlich ruhig zu.
Nachdem wir hier die Runde gedreht haben, geht es weitere auf die Neugeborenenstation, wo auch einige chirurgische Patienten liegen - insgesamt komme ich auf fast 40 Kinder, die hier in einem Raum liegen, und es ist nicht der einzige.
Die Woche ist hier ähnlich eingeteilt wie auf den anderen chirurgischen Stationen, drei Tage OP, drei Tage Sprechstunde für ambulante Patienten.
auch die Krankheitsbilder sind anders, und ich sehe hier schon in der ersten Woche vieles, was ich bisher nur aus dem Lehrbuch kannte und auch nicht unbedingt erwartet hätte, jemals im echten Leben zu sehen; Dinge wie verschiedene abdominale Malrotationen, diverse Fehlbildungen, mehrere Kinder mit M. Hirschsprung, eines mit Prune-belly-syndrom. Auch gehört die Kinderurologie hier ins Gebiet der Kinderchirurgen und macht fast die Hälfte der Fälle aus.
Ich sitze wieder bei einem der Oberärzte mit in der Sprechstunde. Bevor er den ersten Patienten aufrufen kann, steht ein Mann im Zimmer – an und für sich nichts besonderes, dass zu allen passenden und unpassenden Gelegenheiten andere Patienten oder deren Angehörigen einfach ins Sprechzimmer hereinplatzen oder völlig ungeniert hereinschauen, wenn die Tür nicht ganz geschlossen ist. Der Mann spricht den Oberarzt an. Die Unterhaltung wird schnell sehr hitzig. Da sie sich in Hindi unterhalten, verstehe ich nur, dass es sich um den Vater des Kindes in Bett Nummer 4 handelt, und dass es um Geld und den Entlassbrief geht. Der wenige Wochen alte Junge, nur Haut und Knochen, gerade genug zum Überleben, leidet an M. Hirschsprung (angeborene Darmerkrankung, die zum Darmverschluss führt) mit einem sehr ausgedehnten Befall. Er ist am Vortag operiert worden. Die Behandlung ist jedoch noch nicht abgeschlossen. Nachdem der Oberarzt den Mann schließlich hinauskomplimentiert hat frage ich nach. Die Familie will die Behandlung nicht fortführen. Der Vater will, dass sein Kind sofort entlassen wird, da er nicht weiter in die Therapie investieren will, die für die recht einfachen Verhältnisse, aus denen die Familie kommt, eine enorme finanzielle Belastung darstellt. So etwas ist hier keine Seltenheit. Gerade wenn schon bei der Geburt klar wird, dass ein Kind nicht gesund ist und behandelt werden muss, lassen es die Eltern allzu oft einfach im Krankenhaus, weil die Therapiekosten den finanziellen Ruin für die Familie bedeuten würden, so dass es aus Sicht der Familie die bessere Lösung ist, einfach noch ein Kind zu bekommen. Ich finde es immer wieder erschütternd, wie wenig hier oft ein das Leben des einzelnen zählt.
Kurze Zeit später kommt eine Familie aus Delhi mit einem etwa 5jährigen Jungen in die Sprechstunde. Man sieht ihnen an, dass sie zur Oberschicht gehören. Der Junge hat eigentlich nur eine leichte Hypospadie ohne weitere Symptome, hat aber schon eine Odyssee von Arzt zu Arzt hinter sich. Aus mir nicht verständlichen Gründen hat er diverse MRTs, CTs, eine Knochendichtemessung und viele weitere Untersuchungen über sich ergehen lassen müssen. Die Eltern legen eine dicke Mappe auf den Tisch, in der sie alle Befunde gesammelt haben. Jeder einzelne ist geschmückt mit den diversesten Logos und Designs der jeweiligen Klinik. Viele Ärzte hier, und gerade die Radiologen, so scheint es mir, wollen vor allem das Geld wieder hereinbekommen, dass sie in ihre Praxisausstattung investiert haben, ob die Untersuchung beim einzelnen Patienten nun notwendig ist oder nicht. Und auch sonst ist es oft so, dass an eine Arztpraxis eine kleine Apotheke angeschlossen ist – und der Arzt größtes Interesse daran hat, möglichst viele Medikamente zu verschreiben. Auch hier dauert das Gespräch recht lange – um die Eltern zu beruhigen, dass der Junge trotzdem ganz normal in die Schule gehen kann.
Bei der Abendvisite kommen wir wieder an Bett Nummer 4 vorbei. Der Vater ist auch da und wird wieder laut. Die Ärzte hätten ihm anfangs versprochen, sein Kind könnte nur mit Medikamenten geheilt werden. Der Oberarzt redet nochmals kurz mit ihm, aber der Vater lässt nicht mit sich reden. Die Mutter steht still daneben. Die Entlassungspapiere sind inzwischen fertig. Ohne weitere Behandlung wird das Kind nur noch einige Tage oder Wochen leben.
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