Freitag, 12. März 2010

Bed Number 4



Schon der erste Blick auf die kinderchirurgische Allgemeinstation zeigt, dass das hier Welten von dem unterscheidet, was ich in Deutschland als Kinderchirurgie kennengelernt habe. Auf der Allgemeinstation (im Unterschied zum Private und Semi-Private Ward) liegen gut 20 Kinder, Jungen und Mädchen im Alter von etwa 0 bis 14 Jahren, in einem großen Raum. Und dazwischen laufen etwa doppelt so viele Mütter, Schwestern, Schülerinnen, Putzfrauen, Ärzte und noch einige andere Angehörige herum… trotzdem geht es, von den Ventilatoren einmal abgesehen, noch erstaunlich ruhig zu.



Nachdem wir hier die Runde gedreht haben, geht es weitere auf die Neugeborenenstation, wo auch einige chirurgische Patienten liegen - insgesamt komme ich auf fast 40 Kinder, die hier in einem Raum liegen, und es ist nicht der einzige.



Die Woche ist hier ähnlich eingeteilt wie auf den anderen chirurgischen Stationen, drei Tage OP, drei Tage Sprechstunde für ambulante Patienten.
auch die Krankheitsbilder sind anders, und ich sehe hier schon in der ersten Woche vieles, was ich bisher nur aus dem Lehrbuch kannte und auch nicht unbedingt erwartet hätte, jemals im echten Leben zu sehen; Dinge wie verschiedene abdominale Malrotationen, diverse Fehlbildungen, mehrere Kinder mit M. Hirschsprung, eines mit Prune-belly-syndrom. Auch gehört die Kinderurologie hier ins Gebiet der Kinderchirurgen und macht fast die Hälfte der Fälle aus.

Ich sitze wieder bei einem der Oberärzte mit in der Sprechstunde. Bevor er den ersten Patienten aufrufen kann, steht ein Mann im Zimmer – an und für sich nichts besonderes, dass zu allen passenden und unpassenden Gelegenheiten andere Patienten oder deren Angehörigen einfach ins Sprechzimmer hereinplatzen oder völlig ungeniert hereinschauen, wenn die Tür nicht ganz geschlossen ist. Der Mann spricht den Oberarzt an. Die Unterhaltung wird schnell sehr hitzig. Da sie sich in Hindi unterhalten, verstehe ich nur, dass es sich um den Vater des Kindes in Bett Nummer 4 handelt, und dass es um Geld und den Entlassbrief geht. Der wenige Wochen alte Junge, nur Haut und Knochen, gerade genug zum Überleben, leidet an M. Hirschsprung (angeborene Darmerkrankung, die zum Darmverschluss führt) mit einem sehr ausgedehnten Befall. Er ist am Vortag operiert worden. Die Behandlung ist jedoch noch nicht abgeschlossen. Nachdem der Oberarzt den Mann schließlich hinauskomplimentiert hat frage ich nach. Die Familie will die Behandlung nicht fortführen. Der Vater will, dass sein Kind sofort entlassen wird, da er nicht weiter in die Therapie investieren will, die für die recht einfachen Verhältnisse, aus denen die Familie kommt, eine enorme finanzielle Belastung darstellt. So etwas ist hier keine Seltenheit. Gerade wenn schon bei der Geburt klar wird, dass ein Kind nicht gesund ist und behandelt werden muss, lassen es die Eltern allzu oft einfach im Krankenhaus, weil die Therapiekosten den finanziellen Ruin für die Familie bedeuten würden, so dass es aus Sicht der Familie die bessere Lösung ist, einfach noch ein Kind zu bekommen. Ich finde es immer wieder erschütternd, wie wenig hier oft ein das Leben des einzelnen zählt.

Kurze Zeit später kommt eine Familie aus Delhi mit einem etwa 5jährigen Jungen in die Sprechstunde. Man sieht ihnen an, dass sie zur Oberschicht gehören. Der Junge hat eigentlich nur eine leichte Hypospadie ohne weitere Symptome, hat aber schon eine Odyssee von Arzt zu Arzt hinter sich. Aus mir nicht verständlichen Gründen hat er diverse MRTs, CTs, eine Knochendichtemessung und viele weitere Untersuchungen über sich ergehen lassen müssen. Die Eltern legen eine dicke Mappe auf den Tisch, in der sie alle Befunde gesammelt haben. Jeder einzelne ist geschmückt mit den diversesten Logos und Designs der jeweiligen Klinik. Viele Ärzte hier, und gerade die Radiologen, so scheint es mir, wollen vor allem das Geld wieder hereinbekommen, dass sie in ihre Praxisausstattung investiert haben, ob die Untersuchung beim einzelnen Patienten nun notwendig ist oder nicht. Und auch sonst ist es oft so, dass an eine Arztpraxis eine kleine Apotheke angeschlossen ist – und der Arzt größtes Interesse daran hat, möglichst viele Medikamente zu verschreiben. Auch hier dauert das Gespräch recht lange – um die Eltern zu beruhigen, dass der Junge trotzdem ganz normal in die Schule gehen kann.

Bei der Abendvisite kommen wir wieder an Bett Nummer 4 vorbei. Der Vater ist auch da und wird wieder laut. Die Ärzte hätten ihm anfangs versprochen, sein Kind könnte nur mit Medikamenten geheilt werden. Der Oberarzt redet nochmals kurz mit ihm, aber der Vater lässt nicht mit sich reden. Die Mutter steht still daneben. Die Entlassungspapiere sind inzwischen fertig. Ohne weitere Behandlung wird das Kind nur noch einige Tage oder Wochen leben.

Sonntag, 21. Februar 2010

Mysore und Bangalore

Mysore liegt etwa 370 km von von Vellore entfernt Richtung Südwesten, im Nachbar-Bundesstaat Karnataka. Das heißt 8 Stunden Zugfahrt – aber mit dem Nachtzug ist das eigentlich eine recht angenehme Zeit. Ich treffe mich dort mit Christine, einer anderen deutschen Studentin, mit der ich schon öfters unterwegs war und die inzwischen in Bangalore in einem College die zweite Hälfte ihres PJ-Tertials macht.





Berühmt ist Mysore in erster Linie für den Palast, der für die damals regierenden Könige im Jahr 1912 von einem englischen Architekten gebaut wurde. Es ist ein Mischmasch der verschiedensten architektonischen Stile und wirklich sehenswert. Innen darf man leider nicht fotographieren – das steht zwar nirgends, aber wie bei vielen ähnlichen Gebäuden muss man vorher nicht nur die Schuhe sondern auch die Kameras abgeben und die Taschen werden beim Hineingehen durchleuchtet.











Abends wird der Palast für eine Stunde mit tausenden Glühbirnen beleuchtet. Ein wirklich atemberaubender Anblick.








Am nächsten Tag schlendern wir noch ein bisschen über den Markt, was auch immer ein Erlebnis ist, und mittags wartet noch ein weiteres Highlight – Coffee day  wirkliche Cafes sowie echter Kaffee sind hier absolut selten, und Vellore ist zu sehr Kleinstadt, als dass solche Läden oder andere Ketten hier Einzug gehalten hätten, obwohl sie bei den vielen internationalen Besuchern bestimmt ein gutes Geschäft machen würden...








Nachmittags fahre ich dann weiter nach Bangalore, um mich noch mit einem Freund von meinem letzten Indien-Aufenthalt zu treffen, der dort Theologie studiert. Ich darf bei einem von seinen Professoren, einem Amerikaner, übernachten, und gehe man Sonntag mit in den Gottesdienst. Man merkt dem Prediger an, dass er Theologieprofessor und auch sonst gefällt es mir dort wirklich gut. Ich muss nur leider bald wieder aufbrechen, weil es wieder fast 6 Stunden Busfahrt sind zurück zum Campus in Vellore.

CHAD



... steht für Community Health and Development. Dahinter verbirgt sich ein 135-Betten Krankenhaus und eine medizinische Basisversorgung für die ca. 80 Dörfer rund um Vellore, 120 Stammesdörfer in den Hügeln sowie ärmere Viertel der Stadt. Ärzte und speziell ausgebildete Schwestern sowie Sozialarbeiter fahren in regelmäßigen Abständen dorthin, halten Sprechstunden ab, machen Hausbesuche, vermitteln Grundkenntnisse über Gesundheit und Hygiene sowie Förderung von Behinderten in der Gesellschaft etc und führen Vorsorgeuntersuchungen durch.





Die indischen PJler sind für jeweils 2 Monate hier um zu lernen, ohne moderne Technik zu arbeiten – so gibt es zum Beispiel im Kreißsaal kein CTG, sondern nur Stethoskope und Hörrohre. Einer von ihnen, der gerade dort eingeteilt ist, schaut mich ganz entsetzt an, als ich erzähle, dass ich noch nie bei einer normale Geburt dabei war und sagt, er habe schon während des Studiums 20-30 Geburten geleitet, jetzt seien es so 10-15 pro Tag. Nun ja, praktische Ausbildung in Deutschland...
Die anderen internationalen Studenten haben von CHAD vorgeschwärmt. Ich glaube auch bald zu wissen, warum alle so begeistert waren – hier juckt es wirklich absolut keinen, ob man da ist oder nicht. Am ersten Tag bin ich mit in der Sprechstunde, allerdings hat der Arzt keine Zeit zu erklären und weil es nur Leute aus der Umgegend sind, läuft alles auf Tamil ab, so dass ich wirklich gar nichts verstehe. Anschließend ist ein Treffen, bei dem einige Todesfälle in der Klinik und der betreuten Region, darunter auch mehrere Suizide, der vergangenen Woche besprochen werden um zu schauen, wo es Versäumnisse gegeben hat, wie man so etwas in Zukunft rechtzeitig auffangen kann, und wo es Hinterbliebene gibt, die jetzt Hilfe brauchen.
Am nächsten Tag fahre ich zusammen mit einem Arzt und einem Intern mit in ein ärmeres, von Muslimen dominertes Viertel in Vellore. Einige Schwestern und Hebammen sind schon da, und nach und nach kommen etwas über 100 Frauen zur Schwangerenvorsorgeuntersuchung.





Da in CHAD wirklich absolut nichts los ist, nutze ich die Zeit, um ein bisschen zu lernen, mache den Freitag frei für ein verlängertes Wochenende in Mysore und freue mich schon auf die nächste Woche, wenn ich wieder in der richtigen Klinik sein werde.

Montag, 8. Februar 2010

Pondicherry



Der nächste Ausflug geht zwei Wochen später nach Pondicherry, ehemals französische Kolonie.
Pondi, oder zumindest das French Quarter, ist schon etwas Besonderes, von der ganzen Atmosphäre her, und überall sieht man noch Spuren der französischen Einflüsse.




Die Straßen heißen alle Rue und sind bemerkenswert leer, die Kühe laufen nicht überall herum sondern man trifft sie in Form von wirklich guten Steaks, es gibt französische Grundschulen und die Leute entschuldigen sich mit „pardon“ wenn sie einen gerade fast überfahren haben. Aber bei einer dieser Gelegenheiten stelle ich immerhin fest, dass ich mich inzwischen an den Linksverkehr gewöhnt habe und automatisch zuerst nach rechts und dann nach links schaue. Kann nützlich sein.






Als wir am Sonntag einen Ausflug auf den Markt machen, wird aber schon deutlich, dass wir noch in Indien sind.







HLRS

Als ich am letzten Tag in der S IV erzähle, dass ich als nächstes in die Hand- und Lepra-Rekonstruktions-Chirurgie (Hand and Leprosy Reconstructive Surgery) gehen werde, heißt es, dass es dort nur noch „normale“ Handpatienten gibt, das „Leprosy“ im Namen sei historisch. Heute sei es sehr selten, dass die Lepra so weit fortschreiten könne, da die antibiotische Therapie große Fortschritte gemacht hat. Bereits am ersten Tag sehe ich jedoch an die 10 Leprapatienten, bei denen die Krankheit verschiedene Nerven an Händen und Füßen angegriffen hat, so dass sie Lähmungen haben und gefühllos sind. Das führt wiederum zu Verletzungen und Geschwüren, weil sie keinen Schmerz in Händen und Füßen mehr spüren. Einige kommen zur Versorgung der Wunden, andere für rekonstruktive Eingriffe. Da zumeist nur einzelne Muskelgruppen einer Extremität gelähmt sind, können andere verpflanzt werden, um ausgefallene Funktionen zu ersetzen.






Andererseits sehe ich viele Verletzungen der Hand, die schlimmsten und leider nicht seltenen verursacht durch Maschinen, mit denen Zuckerrohr zerkleinert wird. Diese Maschinen werden in kleinen Dörfern meistens nachts betrieben, weil der Strom dafür gestohlen wird. Viele glauben, dass es am besten sei, diese Maschinen zu ölen, während sie laufen. Schwerst verstümmelte Hände sind das Resultat. Eine andere häufige Ursache sind Feuerwerkskörper, die bei den Hindus bei Todesfällen traditionell zur Vertreibung böser Geister in Gebrauch sind und allzu oft in der Hand explodieren.





Zwischendurch kommen Patienten mit Plexuslähmungen, Kinder mit schwersten Verbrennungen, die ins offene Feuer gefallen sind und viele Patienten mit verschiedensten anderen Verletzungen von größeren und kleineren Unfallen. Und auch Patienten aus Bangladesh oder von den Malediven, die sich am Karpaltunnel oder einem Ganglion operieren lassen.




Ich sehe zum ersten Mal in meinem Leben einen ausgeprägten Fall von Kinderlähmung, und auch eine junge Frau, die zwei mißgeformte Finger hat. Jetzt, da sie bald verheiratet werden soll, sollen die Finger, die jahrelang nicht gestört haben, „normal“ gemacht werden. Auch in weit weniger ausgeprägten Fällen als ihrem ist das hier ein häufiger Grund für kleinere rekonstruktive und plastische Eingriffe.




Die Patienten bleiben nach der OP meistens noch für einige Zeit in Vellore und erhalten in der Klinik Physiotherapie. Einmal in der Woche geht einer der Oberärzte dort vorbei um den Fortschritt der Therapie zu beurteilen und die weitere Vorgehensweise zu besprechen.